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AM TELEFON ZEICHNEN
von Hans van der Grinten

In der Regel ist es die Schreibhand, die während des Telefonats in gewissem Maße aus ihrer Kontrolle entlassen ist. Wieweit ihr Spielraum wirklich reicht, bleibt zu untersuchen. Beim Telefonieren zeichnen viele. Jeder wohl wird von sich sagen können, daß er schon, Mund und Ohr am Hörer, gezeichnet hat.

Die Häufigkeit dieses Zeichnens bei Jedermann könnte möglicherweise Aufschlüsse liefern über die vieldiskutierte Frage, ob die im bildnerischen Sinne produktiven Anlagen jedes Menschen im Laufe seiner Entwicklung bei den meisten wirklich erlöschen oder ob sie nur zugedeckt werden durch das Übermaß der geforderten rationalen Produktivität des Erwerbslebens und den unübersehbaren Umfang der Ablenkungen in seiner Freizeit. Daß die Kritzeleien von Jedermann in den Rahmen des hier Gezeigten hineingehören, wenn auch möglicherweise nur als alternativer Hintergrund, steht außer Zweifel.

Auf dem Wege der Entschlüsselung des ursprünglichen zeichnerischen Impulses, der die Kunsttheorie von jeher beschäftigt, müssen alle zeichnerischen Zeugnisse in der weitgespannten Koordinate ihre Stelle finden.

Der Keim jeder Zeichnung hat, so ungerichtet er immer sein mag, sehr viele Valenzen. Der Zeichner selbst hat möglicherweise mehr Einfluß auf die Entwicklung seiner Zeichnung als auf den Keim selbst. Im Grundsätzlichen gilt das Vieldeutige des Anfangstadiums auch für alle Zeichenkunst, die auf bestimmte Ziele gerichtet ist oder von einem Sujet ausgeht, wohl auch für den überwiegenden Teil der angewandten Zeichnung, die mit Entwurf, Konstruktion, Werkzeichnung gefaßt werden könnte.

Gleichwohl ist der Keim, den der Impuls der zeichnenden Hand hervorbringt, zweifellos nicht etwas Allgemeines oder Austauschbares, sondern ein an Person und Wesenheit des Autors gebundenes Spezifikum, das sich selbst noch aus den verhüllenden Überlagerungen zeichnerischer Konventionen, wie sie jede Zeit und jede Strömung in ihrem Gefolge haben, herauslesen läßt. Das wird zum Beispiel deutlich beim gründlichen Studium älterer Zeichnungen, das von allgemeinen Zuschreibungen und Zuordnungen zu sehr genauen Scheidungen der handschriftlichen Besonderheiten von Zeichnung zu Zeichnung gelangt, ja zuweilen innerhalb einer Zeichnung mehrere Hände schlüssig nachzuweisen in der Lage ist.

Man kann sich zu Recht fragen, wann eine Zeichnung beginnt, eine selbständige Wertigkeit anzunehmen. Denn mit den über das Keimhafte hinausgehenden Schritten bringt der Urheber seine gesamte Kapazität ins Spiel, seine angelegten und erworbenen zeichnerischen Fähigkeiten, die nicht nur das Ergebnis von Begabung und Schulung sind, sondern z. B. auch die Summe der persönlichen Erfahrung und alle mit dem Momentanen zusammenhängenden Antriebe.

Es sind vor allem zwei Arbeitsgänge, die das Entstehen der Zeichnung begleiten. Der eine richtet sich auf die Ordnung des Gezeichneten, ausgehend von der Ordnung innerhalb von Details und weiterhin zur Ordnung des bezeichneten Blattes, schließlich auch darüber hinaus auf einen mehrteiligen oder vielteiligen Zusammenhang von Zeichnungen. Der andere betrifft die Verstärkung und Anreicherung des Begonnenen, die von dem Prinzip der Wahrung jedes Details ausgehen kann oder aber bereits Bestehendes durch Überarbeitung verändert oder gar zum Verschwinden bringt.

Was Thomas Mann für den Schriftsteller im Umgang mit dem Wort postulierte, gilt uneingeschränkt für den Zeichner: an jeder Stelle bis zum Äußersten gehen. Dies redet keineswegs der Massierung der Mittel das Wort. Das Äußerste kann rasch oder nach langen mühseligen Schritten erreicht sein, wobei die Mühe der großen Kapazität in nicht geringerem Maß zugemessen sein dürfte als der kleinen.

Es gibt Zeichner, die das Zeichnen als ein Exerzitium mit Regelmaß betreiben, ohne das nun jedes bezeichnete Blatt für sie in diesem Prozeß einen eigenen Stellenwert hätte. Andererseits gibt es solche, die mit ihren Zeichnungen von Blatt zu Blatt, von Phase zu Phase an der Akkumulation eines großen Fundus arbeite, der auch in der größten Vielfalt seinen Zusammenhalt nicht verliert, dessen äußerste Randzonen noch zusammenhängen mit der entwickelten Dichte dieser Anhäufung.

Ein dritter Typ des Zeichners geht weder von der Übung noch von der Passion aus. Er zeichnet beiläufig und unvermittelt; die Resultate sind unpräparierte Anläufe zu außerhalb liegenden Verwirklichungen, die der Betrachter aus ihnen meist nicht ablesen kann. Dem Keimhaften ziemlich nahe geblieben, lassen sie alles abgeschlossene vermissen, das der Betrachter gerne genösse.

Für das Corpus der Zeichnung, sieht man es nun historisch oder aktuell, wird der jeweilige Beitrag der drei wesensverschiedenen Typen nicht so ungleichwertig sein, wie man wohl anzunehmen geneigt ist. Am Telefon wird ihre zeichnende Hand Verschiedenartiges hervorbringen. Das Maß der Freisetzung, der inneren Lockerung, wird auch da zur Wirkung kommen. Es ist nicht anzunehmen, daß die Grundlagen geübter zeichnerischer Kapazität durch den Umstand, daß Hören und Sprechen die Kontrolle über die Hand lockern, wesentlich erschüttert werden.

Der Impuls zum keimhaften Beginn ist selten intellektuell gesteuert. Er wird am ehesten unverändert einsetzen. Bei den weiteren Schritten der Telefonzeichnung wird die Organisation der persönlichen Affinität zum Zeichnen entscheiden. Die Motorik der Handbewegung, die den zeichnerischen Stil des Einzelnen entscheidend prägt, wird auch in der Telefonzeichnung sich Geltung verschaffen. Das heißt, mancher charakteristische Zug, der Eigenheit, Rang, Stellenwert eines Zeichners ausmacht, bleibt auch am Telefon intakt.

Das gilt für den impulsiven, gefühlsbetonten Künstler in verstärktem Maße. Denn ein Teil des zeichnerischen Dranges wird bei ihm auch im konzentrierten Zustand eher körperlich als geistig gesteuert. Eine wesentliche Grenzlinie bei der Telefonzeichnung scheinen Stadien zu sein, in denen ordnende Entscheidungen zu treffen wären, die z. B. den Einsatz des Stiftes drosseln, bestimmte entstandene Akzente herauszuheben im impulsiven Vollzug entstandene Übergewichte zu dämpfen oder auszugleichen; und die, im Unterschied zur ungestörten konzentrierten zeichnerischen Arbeit, am Telefon nicht getroffen werden. Die glättende, komplettierende, abschließende Phase des Zeichnens unterbleibt. Wo der regelnde Intellekt dem Routinierten - mitunter auch den Schwächen - Einhalt gebietet, Einsicht und Erfahrung korrigierende Wege finden, bleibt die Telefonzeichnung ungeschoren.

Die Nichtkünstler am Telefon finden nichts dabei, eine in der Anlage reizvolle zeichnerische Zelle durch mähliches Durchstreichen und Überkreuzen zu verderben, so daß endlich ein zur Unkenntlichkeit und Unförmigkeit geschrumpftes Residuum übrigbleibt.

Der Künstler am Telefon wird schon durch seinen trainierten Instinkt an der Grenze der Verderbung innehalten. Ihm gereichen die Lockerungen der Kontrolle über seine zeichnende Hand zur Vertiefung seiner Einsicht in die eigenen zeichnerischen Möglichkeiten. Denn die Wahrung und Einhaltung der Grenzlinien des Zeichnerischen, die er für sich selbst zu ziehen gar nicht umhin kann, die er für sich eigentlich auch nicht bestimmen kann, da sie wesensmäßig mit den in ihm angelegten und entwickelten Möglichkeiten zusammenhängen, ist für ihn eine Grundfrage seiner künstlerischen Existenz.

Die Telefonzeichnung als Offenlegung der Grenzzone, in der die Entscheidung fallen muß für die Zeichnung als autonomes Kunstwerk in Abgrenzung zur automatistischen Agglomeration, kann beitragen zur Bestimmung der so vieldeutigen zeichnerischen Ergebnisse, die insgesamt aus unbestimmbaren Grundfiguren erwachsen bzw. entwickelt werden und doch es sich gefallen lassen müssen, in das Corpus des Gezeichneten einbezogen zu werden.


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